JW-Kolumne 2015



jW-Ausgabe Die letzte Kolumne 21./22.02.2015 - "Ich kann schreiben "

 


In meinem Archiv stehen hunderte handgeschriebene Briefe. Zugegeben, sie sind vorwiegend aus dem vorherigen Jahrhundert. Da gab es noch keine Computer und Smartphones. Aber Schreibmaschinen gab es schon. Trotzdem haben meine Leser, wenn fürchterlicher Kummer am Herzen nagte, fast immer mit der Hand geschrieben. Wahrscheinlich spürten sie, dass die Gedanken, die so aufgeschrieben werden, mit dem Verbund von Buchstaben heraus fließen. Insofern hatte das Schreiben eine therapeutische Wirkung. Man ist etwas los geworden, hat es sich von der Seele geschrieben.

Aber bloß keine romantische Verklärung. Ich bin mir sicher, die jungen Leute von damals hätten ihren Schmerz auch in den Computer gepresst, wenn es schon einen gegeben hätte.

Das Schreiben lag schon immer in harter Konkurrenz mit dem technischen Fortschritt. Mit der Erfindung des Buchdrucks um 1450 wurden die Schreiber in den Klöstern überflüssig. Die Schreibmaschine revolutionierte das 20. Jahrhundert. Gegen die Maschine hatte die Hand nie eine Chance. Auch wenn die schönen Schriften verdrängt wurden, war es doch immer ein Gewinn für die Kommunikation. Das Schreiben ging schneller, das Geschriebene konnte sich überall hin verbreiten. Darum sollte jetzt auch kein Wolfsgeheul ausbrechen, weil das Tippen mit zwei Daumen die Hand entlastet. Es ist nach wie vor nicht verboten, mit der Hand zu schreiben.

Vorausgesetzt, man kann es noch lernen.

Dafür wird heute in der Schule wenig Zeit verschwendet. Sie wird verbraucht, um sich darüber klar zu werden, wie die Kinder schreiben sollten. Darf es eine Schreibschrift sein, die die Buchstaben mit Schwung verbindet oder gleich eine neue Grundschrift, die der Druckschrift ähnelt. Da halten wir es, wie im gesamten Bildungswesen, mit der Vielfalt. Vier Schriftarten, die von den fünfziger Jahren bis heute entwickelt wurden, einschließlich der Schulausgangsschrift aus der DDR, sind im Angebot. Es bleibt den Ländern und den Schulen überlassen, wofür sie sich entscheiden. In Finnland, wo wir ja immer gern hin schielen, wenn es um Bildung geht, war man ganz rigoros. Ab 2016 wird in der Grundschule gleich am Computer geschrieben. Nichts mehr mit Heft und Füller.

Forscher wenden ein, dass die Hirnareale vernetzter sind, wenn mit der Hand geschrieben wird. Zuhörer von Vorträgen, die sich Notizen auf dem Papier machen, behalten das Wesentliche besser im Kopf, als den Laptop zu füttern. Stimmt. Was einmal durch Hand und Kopf gegangen war, bleibt an der richtigen Stelle hängen und ist länger abrufbar. Schreiben ist also auch eine Lerntechnik. Darum wäre es schon schön, wenn künftige ABC-Schützen wenigstens Druckbuchstaben flink aufs Papier zaubern könnten. Zumindest für den Notfall. Wenn gerade kein Tablet zur Hand ist oder der Akku den Geist aufgegeben hat. Allerdings wird Handschriftliches kaum noch gefordert. Mir fällt nur das Testament ein, das übrig geblieben ist.

Die Debatten darüber, ob unverschnörkelt oder mit Schwung geschrieben werden soll, gleich oder erst später, wann und überhaupt, finde ich absurd. Ehe wir uns einen Kopf darüber machen, wie unsere Kinder schreiben, sollte erst einmal dafür gesorgt werden, dass alle das Alphabet beherrschen. 7,5 Millionen Menschen oder 14,5 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung können in Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Bei weiteren 13 Millionen oder 25,9 Prozent tritt fehlerhaftes Schreiben selbst bei gebräuchlichen Wörtern auf. Aus einer Langzeitstudie zwischen 1972 und 2012 zu Schulaufsätzen in Grundschulen geht eine dramatische Verschlechterung der Rechtschreibfähigkeit hervor. Da könnte der Computer natürlich Korrekturangebote machen. Aber wenn er nicht mehr erkennt, was einer meint, hat auch er seine Grenzen.

Wahrscheinlich wäre es Analphabeten, die sich oft voller Scham mit ihrem Problem heimlich durchs Leben schlängeln, völlig egal, ob sie die Buchstaben nun gedruckt oder mit schwingenden Bindungen zu Papier bringen. Hauptsache, sie könnten es. Anne Frank hat diese Freude 1944 in ihrem Tagebuch beschrieben: „Niemand, der nicht schreibt, weiß, wie fein es ist, zu schreiben. Früher habe ich immer bedauert, nicht gut zeichnen zu können, aber nun bin ich überglücklich, dass ich wenigstens schreiben kann.“



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jW-Ausgabe 07./08.02.2015 - "Der richtige Papa"

Als Markus geboren wurde, war seine Mutter alleinerziehend. Erst als sie später heiratete und er noch mehrere Geschwister bekam, hatte er auch einen Vater. Über den Mann, der ihn gezeugt hat, wurde nie gesprochen. Das ist bis heute so. Die Mutter wird ihre Gründe haben. Ohne das Wissen über seine Abstammung ist Markus ein tüchtiger Mann geworden. Er leidet weder an Herzdrücken noch an Depressionen.

Es gibt so Menschen, bei denen man auf den ersten Blick sagt: „Ganz der Vater!“ So einer war Holger. Er bewegte sich wie er. Dieser leicht wiegende Gang. Seine Stimme. Keinen verbalen Schlagabtausch auslassend. Immer hell wach, intelligent. Eben ganz der Alte. Irgendwann erfuhr ich, dass sein „Ebenbild“ gar nicht der leibliche Vater ist. So viel zu den Genen.

Andreas und Bettina haben einen zwanzigjährigen Sohn und zwei Töchter. Nach einer Blutuntersuchung stellt der junge Mann fest, dass da etwas nicht passt. Alle sind bestürzt. Der Sohn ist wahrscheinlich ein Kuckuckskind. Bettina muss schon schwanger gewesen sein, als sie mit Andreas intim wurde. Ein paar Tage vielleicht. Niemand hatte Zweifel. 20 Jahre lang gab es keinen Verdacht. Warum soll jetzt alles anders werden? Eine Spurensuche hat nicht stattgefunden. Die Liebe und Harmonie in der Familie sind groß genug, ein Geheimnis auszuhalten.

Die drei jungen Männer sind durch ein intimes Verhältnis ihrer Mütter, das nicht gehalten hat, zu einem biologischen Vater gekommen. Kontakte zu den Erzeugern hat es nie gegeben. Wären es anonyme Samenspender gewesen, könnten sie nun losziehen, und die Verursacher ihres Daseins dingfest machen. Vor gut einer Woche hat der Zivilsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) verkündet, dass Kinder grundsätzlich ein Recht darauf haben, frühzeitig den Namen ihres biologischen Vaters zu erfahren. Nun werden die Gerichte gut zu tun bekommen. Die Herausgabe der Unterlagen über die Samenspende, die 30 Jahre aufbewahrt werden sollen, wird von den Ärzten häufig verweigert. Zu recht. Schließlich gibt es hier auch den Anspruch, die Anonymität der Spender zu wahren. Diese Männer sind wahrscheinlich nur in Ausnahmefallen scharf darauf, ihre „Spenderkinder“ kennen zu lernen. Geschweige denn, wegen Unterhaltszahlungen und Erbansprüchen verklagt zu werden. Auch das käme infrage, wenn es keinen rechtlichen Vater gibt.

Es ist abzusehen, dass zunehmend weniger Männer bereit sein werden, in einer Samenbank etwas zu deponieren. Nicht mehr sicher vor Überraschungen und Forderungen zu sein - wer will das schon? Das wiegen die 100 Euro pro Spende nicht auf. Wenn davon auszugehen ist, dass bereits 100 000 Kinder in Deutschland durch Samenspende gezeugt wurden, wäre das ein Schlag gegen die Reproduktionsmedizin. Sie trägt bei schwacher Geburtenrate immerhin dazu bei, die Reserven für mehr Wunschkinder auszuschöpfen. Dabei ist die Variante der Befruchtung einer gesunden Frau mit Spendersamen die einfachste und preiswerteste. Ich meine, dass diese Lücke zwischen dem Persönlichkeitsrecht der einen und der nun offensichtlichen Rechtlosigkeit der anderen unverzüglich mit einem Gesetz zur Samenspende geschlossen werden muss. Ansonsten öffnen wir Tür und Tor für wilde Abenteuerlust, primitive Neugierde und Familienkrieg. Das Herz-Kino liefert dafür die Vorlagen. Am besten, wenn der große Unbekannte reich, klug und schön auf einem weißen Pferd daher geritten kommt.

Es kann in der Familie über alles gesprochen werden, ohne damit eine Besichtigungsfahrt zum Samenspender auszulösen. Ein Recht auf etwas zu haben, heißt nicht, es zwingend in Anspruch zu nehmen. So viel Respekt sollte vor der Intimsphäre des Spenders bleiben. Kinder lieben den Papa, den sie kennen. Das ist der, der immer da war. Der mit gerümpfter Nase die Windeln gewechselt hat. Der den Fahrradsattel wieder ein Stück höher schraubte. Der gemeckert hat, weil es in Mathe nur eine „3“ gab.

Wären die Abstammung und die damit geerbten Gene wirklich so ausschlaggebend, dann brauchten wir uns ja nur noch zurücklehnen und auf Aufstieg oder Untergang zu warten. Entscheidend bleibt jedoch, was wir aus dem, was uns mitgegeben wurde, selber machen. Richtige Väter und Mütter helfen dabei, Gutes zu fördern und Schlechtes zu bremsen. Egal, von wem das Kind das auch hat.

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jW-Ausgabe 24./25.01.2015 - "Nomen est omen"

Ach, wie gut es ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß«, schrie das auf einem Bein hüpfende Männchen im Grimmschen Märchen. Über »Rippenbiest« und »Hammelswade« kämpfte sich die verzweifelte Königin, die ihr Kind natürlich ihr nicht hergeben wollte, obwohl sie genau das versprochen hatte, schließlich an den Namen des wütenden Zwerges heran. Damit hatte er, der seinen Namen für einzigartig hielt, nicht gerechnet.

Vielleicht würden Angelina Jolie Müller, Logan Lennox Peters oder Suger Lee Mertens irgendwann auch gern ums Feuer tanzen, weil ihnen ihr einzigartiger Name anhängt wie ein Rattenschwanz. Manche halten ihn für einen Witz, andere verstehen ihn nicht gleich und fragen genervt: Wie heißt du? Oder sie sprechen ihn falsch aus, wenn sie ihn lesen.

Mir tut zunehmend das pädagogische Personal in Kitas und Schulen leid. Da spielen und lernen in einigen Jahren Angelos Leandro, Runa Malea, Ella Rita-Albertine und Gelmino Noa. Alles Babynamen 2015. Wer soll sich das in dieser Fülle merken?

Dabei ist es doch so wichtig, mit seinem Namen angesprochen zu werden. Das bedeutet Anerkennung und Wertschätzung schon bei Kindern, wenn jemand weiß wer ich bin und wie ich heiße. Früher hatten manche Lehrer, wenn sie ein neues Schuljahr übernahmen, so einen Klassenspiegel mit Bankreihen und Namen. Heute wäre das in Lautschrift anzufertigen. Vorausgesetzt, Samantha macht sich nicht selbst zur Zementa.

Nun könnte man vermuten, dass die vielen ausländisch klingen Vornamen,wie Olympia und Calypso, etwas mit Weltoffenheit zu tun haben. Vielleicht auch mit Toleranz?

Wie vereinbart sich jedoch der Wille zur Internationalität mit den Ergebnissen einer Studie über »Diskriminierung am Arbeitsplatz« vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration? Bewirbt man sich hierzulande um einen Ausbildungsplatz, wird man merken, dass die Diskriminierung beim Vornamen beginnt: Obwohl sie die gleichen schulischen und sprachlichen Voraussetzungen einbrachten, müssen Ahmet und Hakan deutlich mehr Bewerbungen schreiben, um zu einem Gespräch eingeladen zu werden. Sie werden häufiger ignoriert und geduzt als das bei Lukas und Tim der Fall ist.

Die Diskriminierung durch Vornamen war übrigens eine Praxis im Faschismus. Ab 1938 war es der jüdischen Bevölkerung nur noch erlaubt, aus einer Liste jüdischer Vornamen auszuwählen. Und wer einen anderen Namen trug, hatte dem Sara bzw. Israel hinzuzufügen.

Wer heute Justin, Kevin, Dustin oder Peggy heisst, der wird einsortiert in den Schubladen bildungsfern und Unterschicht. Das gilt auch für die angeblich typischen Ossinamen aus den 70er Jahren Ronny und Sindy. Immerhin gibt es auch unverdächtige Modenamen. Seit 2009 stand bei den Mädchen Mia an der Spitze und wurde nun endlich von Emma besiegt. Bei den Jungen erfreuen sich Ben und Luis großer Beliebtheit. Solche Übersichten und Statistiken haben wir übrigens einem Hobby-Namensforscher zu verdanken. Er heißt ganz unauffällig Knud Bielefeld und hat wirklich nichts mit dem berühmten Eisbären zu tun.

Es gibt viele Gründe, verantwortungsvoll über Namen nachzudenken, mit denen Kinder durchs Leben geschickt werden. Schließlich haben auch häufig vergebene Namen ihre Haken: Man ruft »Paul!« in eine Gruppe hinein und schon springen drei Leute auf. Oder man kann dumm tun und sich nicht angesprochen fühlen. Das wäre ja bei Suri-Michelle oder Hanna-Hope ganz und gar unmöglich.

Einzigartig wird ein Mensch nicht durch seinen Namen. Und schon gar nicht, wenn Eltern nur ihre Träume und Ziele am Kind verwirklichen wollen. Glücklicherweise wird all zu großem Erfindungsreichtum kreativer Eltern gesetzlich ein Riegel vorgeschoben. Zumindest werden Neuschöpfungen geprüft, ob sie dem Kindeswohl schaden könnten. Ob da wohl Sala-Mi scheitern könnte? Hoffentlich!

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jW-Ausgabe 10./11.01.2015 - "Da hört der Spaß auf!"

„Gleich und gleich gesellt sich gern“ sagen die einen. „Gegensätze ziehen sich an“, behaupten die anderen. Damit sind Geschäftsmodelle für stabile Partnerschaften gemeint. Ja, aber was denn nun? Alles gleich oder lieber Unterschiede? Ich weiß nicht, ob jemand gern mit einem charakterlichen Doppelgänger liiert sein möchte.Ich gehe davon aus, dass zwei Menschen, die miteinander leben wollen, egal welchen Geschlechts sie sind, auch ganz eigene, sehr persönliche Bedürfnisse, Träume und Vorstellungen haben. Es kann nicht ihr Bestreben sein, die absolute Übereinstimmung zu suchen.

Der Sinn des Zusammenlebens ist doch, das Andere zu entdecken, es anzunehmen und Gemeinsamkeiten zu schaffen. Nur aus unterschiedlichen Positionen können sich Spannungen ergeben, die eine Beziehung am Leben erhalten. Es wird immer wieder um Balance gekämpft und jeder lernt dabei, kompromissfähig zu werden, andere Betrachtungsweisen zu akzeptieren, sich nicht selbst für den Nabel der Welt zu halten. Verschiedenheit der Partner ist eine Möglichkeit, sich gegenseitig zu ergänzen. Ob das gelingt, sollte probiert und getestet werden, bevor endgültig „Ja“ gesagt wird. Probe liegt im Trend. Probezeit bis zum festen Arbeitsvertrag, Probearbeit, bevor es zur Einstellung kommt, Probefahrt, wenn ein Auto gekauft wird.

Nur bei der Ehe wollten einige tollkühne Paartherapeuten zugunsten eines sensationsheischenden TV-Senders, die Probezeit außer Kraft setzen. Sie suchten nach den Ähnlichkeiten der Heiratswilligen. Psychologen wollen herausgefunden haben, dass Paare, die sich ähneln, seltener für Trennungen anfällig sind. Ehen würden vor allem darum scheitern, weil es nicht genug Gemeinsamkeiten gibt. Vier Paare, die nach wissenschaftlichen Kriterien unter 7000 Bewerbern ausgesucht und füreinander passend befunden wurden, gingen im vergangenen Jahr die Ehe ein, ohne sich jemals vorher gesehen oder ein Wort miteinander gewechselt zu haben.

Wie in einem Tierversuchslabor wurden die Kandidaten getestet. Vom Fragebogen über Hintergrundgespäche bis zur Lifestile-Analyse und einem DNA-Test. Ist das wirklich eine spannende Geschichte oder eher ein Experiment am lebenden Material? Wie konnte unser Grundgesetz, das den Schutz von Ehe und Familie mit großer Ernsthaftigkeit bei allen nur denkbaren Gelegenheiten hervorhebt, eine solche Posse aushalten? Nun kann erleichtert festgestellt werden, dass die Sache ziemlich schief ging. Als die letzte Folge ausgestrahlt wurde, waren drei Paare bereits auf Scheidungskurs. In Dänemark und den USA, wo dieses Kuppel-Format abgekupfert wurde, hat nicht eine dieser Ehen überlebt.


Was also sollte der ganze Quatsch? Sehen wir es mal positiv. Es konnte nachgewiesen werden, dass es ganz ohne Liebe eben doch nicht geht. Es ist nicht gelungen, die emotionslose Vernunftehe, die zunehmend als Scheidungsbremse propagiert wird, wieder salonfähig zu machen. Der Beweis, dass arrangierte Ehen auf Dauer besser halten, war leider auch nicht möglich, weil sie wie Rohrkrepierer gar nicht erst los gingen. Dass unsere frühen Vorfahren auch nicht aus Liebe geheiratet haben, ist ein schwacher Trost. Stimmt aber. Die einen, weil sie zu viel Geld und die anderen, weil sie viel zu wenig hatten. Aber das ist wirklich lange her. Heute ist bei über 90 Prozent der Hochzeiten die Liebe der ausschlaggebende Grund. Lieber heiß und heftig auf Zeit, als lau und flau ein Leben lang. Es kann vieles passen, aber ob es Liebe ist oder Liebe werden kann, können Testverfahren nicht ermitteln.

Mitunter sind es Winzigkeiten, die die Liebe vereiteln. Als ich mich vor einigen Jahren mit einer Studie zur Partnervermittlung beschäftigt hatte, erzählte mir eine Frau, dass sie begeistert von dem Mann war, als sie ihn beim ersten Treffen gesehen hatte. Aber als sie seine Stimme hörte, war der Funke erloschen. So sensibel, so individuell sind die Gefühle. Wie gut, dass Hilfe bei der Partnerwahl wirklich nur erweiterte Kontaktmöglichkeiten sind. Die Stunde der Wahrheit schlägt auch bei sorgfältigster Vorauswahl immer vor Ort, wenn sich zwei sehen, hören, anfassen. Alles andere würde Menschen entmündigen und Beziehungen zu einem Computerspiel degradieren. Genau das hatten sich Heiratsvermittler und ein Sender angemaßt. Irgendwo hört der Spaß aber auf.

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"Wir freuen uns, daß Jutta Resch-Treuwerth wieder als Kolumnistin für diese Zeitung tätig ist. Alle zwei Wochen wird es an dieser Stelle um Liebe, Lust und Last, Körper und Kopf gehen. Die Autorin war bis 1992 Redakteurin der jungen Welt und schrieb über 20 Jahre lang die Aufklärungskolumne »Unter vier Augen«."    (jW 30.03.2013)

Interviewauszug JW

Können Sie sich erklären warum die Kolumne „Unter vier Augen“ eine so große Beliebtheit erreicht hat? Noch heute sprechen damalige Leser voller Begeisterung davon, obwohl die Beiträge schon seit 20 Jahren nicht mehr erscheinen.

Das ist sicher ein kleines Phänomen in unserer schnelllebigen Zeit. Im Jahre 1963, als in der politischen Tageszeitung „Junge Welt zum ersten Mal „Unter vier Augen“ erschien, war das eine Sensation. Über Liebe und Sex wurde in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. Und über die Jugendliebe schon gar nicht. Das war zu dieser Zeit auch im Westen nicht besser. Die neuen Themen in der Zeitung ersetzten die fehlende Literatur und nicht vorhandene Beratungsstellen. Mädchen und Jungen zwischen 14 und 16 Jahren bekamen die Möglichkeit, ihre ganz persönlichen Fragen an die Redaktion zu schicken, sich etwas von der Seele zu laden. Und da damals der Kontakt zwischen Redaktion und Leser ausschließlich über den Brief funktionierte, wurde geschrieben und geschrieben - überwiegend mit der Hand, selten mit einer Schreibmaschine.

Was passierte mit der Briefflut?

Alle Briefe wurden beantwortet, auch wenn sie nicht für die Veröffentlichung infrage kamen. Das setzte Offenheit und Vertrauen auf beiden Seiten voraus, denn wer eine Rückmeldung wollte, musste mit Namen und Adresse schreiben. Darüber hinaus waren die dargestellten Probleme in der Zeitung eine Orientierungshilfe für Eltern und Lehrer. Da gab es so manchen „Aufreger“, der in den Klassenzimmern und zu Hause beim Abendbrot zu riesigen Debatten führte. Die liebevolle Erinnerung vieler Leser an „Unter vier Augen“ ist ein Stück eigenes Erwachsenwerden. Die Rubrik, die jede Woche einmal erschien (eine Zeitung kostete 10 Pfennige, am Wochenende 15 Pfennige), hat junge Mädchen und junge Männer von der Pubertät bis in ihre große Liebe und in die feste Partnerschaft begleitet. Diese guten Erfahrungen wurden an die nächste Generation weitergegeben.

In Ihrem Buch “Liebesbriefe aus zwei Jahrzehnten“, das Anfang der 90er Jahre erschien, veröffentlichen Sie Briefe, die nicht nur mit Liebe und Sex etwas zu tun haben. Und die teilweise auch von nicht jugendlichen Lesern verfasst wurden. Waren das Briefe, die zu DDR-Zeiten nicht erscheinen durften?

Es sind vor allem Briefe, die aufgrund ihrer Ausführlichkeit und wegen des Blicks hinter die Kulissen nicht für ein Frage- Antwort Format geeignet waren. Es wäre schade gewesen, sie darauf zu reduzieren. Ich habe diese Briefe über lange Zeiträume gesammelt. Die Idee, daraus ein Lesebuch zu machen, existierte schon vor der Wende. Aber so richtig wollte das niemand haben. Es waren einfach zu viel Unglück, Trauer, Verlassenheit, Konflikte auf einem Haufen. Die DDR wollte immer nur in strahlende Gesichter sehen. Natürlich habe ich dann nach der Wende auch noch mal auf Briefe geschaut, die ihres Inhalts wegen zu den Tabuthemen gehörten. Ich denke da an die Ausreisenden, an die West-Omas, an Behinderungen von Homosexuellen, die Einstellung zu ausländischen Freunden. Das Spannende an diesen Briefen ist, dass sie über ein Liebesproblem hinausgehen und DDR-Alltag beschreiben wie er tatsächlich empfunden und gelebt wurde. In diesen Zeitdokumenten hat niemand die rosarote Brille auf der Nase und es gibt keine Wertungen aus heutiger Sicht.

Interviewauszug aus jW
(16./17.März 2013)